Eigentlich lohnt es sich nicht, das Interview, das Deutschlandradio Kultur anlässlich der Didacta mit Josef Kraus geführt hat, durch eine Analyse implizit aufzuwerten. Zu sehr zeugt es von Unkenntnis und (noch schlimmer, weil noch schwerer zu überwinden) von Ignoranz gegenüber dem Themenkomplex Digitale Bildung. Allerdings handelt es bei Herrn Kraus um den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes und so steht zu befürchten, das er für ziemlich viele Lehrerinnen und Lehrer spricht. Kritische Würdigungen finden sich bereits bei Ellen Trude, Alexander Lasch, Christian Spließ, Lars Hahn und Christian Müller, dazu kommen etliche Tweets; positive Reaktionen sind mir bisher entgangen.
Was mich am meisten stört, ist seine Unart, die gestellten Fragen umzudeuten und Problematisierungen zu ignorieren. Auf den Einwand des Interviewers Frenzel Sind wir nicht ganz schön weit weg von einer Situation, wie Sie sie gerade an die Wand malen? (weil es in Deutschland deutlich weniger Rechner pro Schüler gibt als in anderen Ländern) kommt von ihm, er lasse sich nicht von irgendwelchen Zahlen blenden. D.h. also, seine postulierte Zwangsdigitalisierung (was für eine Wortwahl! Herr Kraus ist Deutschlehrer und Psychologe) findet trotz Minimalausstattung statt, oder wie?
Er sieht Kollateralschäden, wenn die SchülerInnen alle sechs oder acht Unterrichtsstunden am Tag nur noch mit Tablets zu tun haben. Wer macht sowas? Wer will sowas? Hat sich Herr Kraus wirklich je mit mediendidaktischen Konzepten befasst? Er plädiert für Digitalisierung des Unterrichts dort (..), wo es fachlich Anknüpfungspunkte gibt. Die gibt es tatsächlich allerdings praktisch überall, selbst im Ethik-, Religions-, Latein- oder Deutschunterricht, die er davor wohl weitgehend gefeit sieht. Aber alles was mit Medien zu tun hat, geht ihm ein bisschen durcheinander; medienpädagogische Unterrichtung (hm, wie definiert er die denn?) kann auch etwas Einspielen über Beamer sein.
Genauso daneben: Wer sich in einer Bibliothek (..) in einem Lexikon nicht auskennt, nämlich Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, der wird sich auch im Internet nicht auskennen. Nun werden unsere SchülerInnen allerdings in der Bibliothek kaum noch aktuelle analoge Lexika vorfinden. Da müssen sie dann zusätzlich erkennen, was davon schon veraltet ist.
Was Herr Kraus von Bildung wirklich hält, wird bei der Frage, ob Kinder Programmieren lernen sollen, noch deutlicher. Dinge durchschauen und hinterfragen? Im Falle digitaler Medien nicht nötig, da reichen einmal im Jahr ein Projekttag oder seinetwegen auch eine Projektwoche.
So bleibt halt doch die bewahrpädagogische Position: Und im Übrigen müssen wir in der Schule natürlich unter Beiziehung von Fachleuten unseren jungen Leuten auch klar machen, welche Gefahren mit den Neuen Medien auf uns zukommen. Und zum Projekttag holt er sich erfahrene Leute, Internetfahnder der Polizei und so weiter mehr, die den jungen Leuten klar machen, wo man hineintappen kann. So dass am Ende Lehrer, Eltern und Schüler wissen, was mit diesen Geräten alles an Unsinn angestellt werden kann. Sinnvolles mit digitalen Medien ist Herrn Kraus offensichtlich nicht untergekommen (außer Anwendungsprogramme natürlich).
Die Diskussions(un)kultur des Herrn Kraus lässt befürchten, dass er auch bei anderen wichtigen bildungspolitischen Themen so agiert. Mit dem Drang, durch Verkürzungen und das Eindreschen auf Strohmänner, ungeliebte Entwicklungen zu diskreditieren, kann er vielleicht die Mitglieder seines Verbands um sich scharen. Konstruktive Beiträge sehen anders aus.
Ist das nicht eine typisch deutsche Reaktion? Zuerst sehen wir die Gefahren, die eine Veränderung mit sich bringen kann. Dann verharren wir in der Passivität, bis der Leidensdruck ansteigt und am Ende jammern wir, weil wir den Anschluss verpasst haben.
Ich empfehle hier Kathrin Passigs „Standardsituationen der Technologiekritik“.
Obwohl ich mit „typisch deutsch“ so meine Probleme habe (ähnliche Widerstandsmechanismen lassen sich vermutlich auch andernorts finden), kann Kathrin Passig tatsächlich gut zitiert werden, die den Herrn Kraus entlarvend präzise charakterisiert: „Wenn man routinemäßig Innovationen schlechtredet, die man noch gar nicht richtig ausprobiert hat, dann fördert man dadurch schlampiges Denken. Man fördert es im eigenen Kopf und man fördert schlampiges Denken in den Köpfen der Mitarbeiter“. Mitarbeiter sind hier zu ersetzen durch seine Adressaten, also Verbandsmitglieder, KollegInnen, Eltern und SchülerInnen. Seine Statements haben ja Reichweite und vermutlich auch Wirkung, mehr als unsere – leider.